Verden. Es dauert ein wenig. Aber es funktioniert. Einen Schritt vor den anderen setzt er, behutsam einen Schritt, dann genau schauen, und ein nächster Schritt. Der Verdener Gastronom Sven Sottorff auf dem Weg in seine Kneipe Anita-Augspurg-Platz. Erst mal Schritt für Schritt nur der Weg vom Auto, aus dem er sich aus eigener Kraft zu erheben, vom Beifahrersitz zu erheben vermag, zu den beiden Stufen, die seit Jahrhunderten vor dem Eckeingang am Fachwerkhaus liegen, zu den Stufen, die er früher kaum wahr genommen hat, und die er jetzt genau ins Auge fasst. Sven Sottorff. Querschnittsgelähmt. Seit jenem Unfall im September vergangenen Jahres querschnittsgelähmt.
Kein Gefühl in den Armen, keines in den Beinen, nicht in den Fingern, nicht in den Fußen. Querschnittsgelähmt unterhalb des Halses.
Und dennoch bewegt er sich. Auf eigenen Beinen. Bewegt sich zurück in seine Kneipe, seine Gaststätte, bewegt sich zurück ins Leben. Die Gastronomie, die seinen Namen trägt, sie war bis zu jenen Ereignissen vom September Teil seines Lebens. Sie ist es noch. Aber es ist nichts mehr wie es war. Nur die Zuversicht, sie ist geblieben, nicht vollständig, mehr eine Hoffnung, aber sie ist da. “Es geht voran”, sagt Sven Sottorff.
Lokomat heißt das medizinische Gerät, das einem Roboter ähnelt, einem menschengroßen Roboter. Arme hat diese Maschine, Beine auch, einen Rücken ebenfalls. Dieser Roboter ist in der Lage, Personen in sich aufzunehmen, eine Person. Er umklammert gewissermaßen die Beine, die Arme, den Rücken. Er beginnt, mit ihnen einen Schritt zu gehen, er beginnt, die Motorik eines Schritts zu üben. Den Anfang von allem. “Ich stand im Oktober vergangenen Jahres zum ersten Male in einem solchen Roboter”, sagt Sven Sottorff. In den Zeitraum seines viermonatigen Aufenthalts in der Spezialklinik Boberg in Hamburg fällt diese Begegnung der mechanischen Art. “Ich hing in der Maschine”, sagt der 54-Jährige, “zusätzlich mit Drähten fixiert.” Es habe funktioniert, okay, der Roboter bewegte ihn, als gehe er einen Schritt. Und einen nächsten.
Das Problem liegt woanders. “Kein Gefühl in den Beinen, kein Gefühl im Körper, und dann aufrecht stehen”, sagt er, “das machst Du nicht so einfach.” Der Körper sperre sich, Dinge zu unternehmen, die ihm als unmöglich erscheinen. “Mich überkam Angst”, sagt Sven Sottorff. “Ich habe nie in meinem Leben Angst gehabt, aber jetzt, jetzt hatte ich pure Angst.” Und dies nicht nur im Roboter. Schon aufrechtes Sitzen löse diese Panik aus.
“Ich hatte Angst, nach vorne zu kippen und mich dann nicht auffangen zu können.”
Eine Angst, die langsam gewachsen war. Ganz langsam. Erst Wochen nach diesem Tag, der alles veränderte, diesem 14. September, einem schönen Sommertag, einem schönen Sommerabend, daran erinnert er sich, sagt er. Fraktionssitzung bei der CDU, Heimfahrt per Fahrrad, per E-Bike, noch eine Stippvisite in seiner Kneipe, kurz vor seinem Zuhause passierte es. “Ich habe keine Erinnerung. Ich kann es mir bis heute nicht erklären. Wahrscheinlich ein Schlenker, ein rechtwinkliger Schlenker, als würde man jemandem ausweichen, einer Katze zum Beispiel.” Alles Mutmaßungen, aus späteren Einschätzungen hergeleitet.
Das Einzige, was feststeht: Passanten fanden ihn am Abend, er bewusstlos, er auf dem harten Straßenpflaster. Ins Verdener Krankenhaus wurde er eingeliefert. Unklar immer noch, ob er zunächst Reflexe zeigte. Klar hingegen seine erste Begegnung mit der Wirklichkeit.
“Ich spürte plötzlich, ich kann mich nicht bewegen. Ich bin in Panik geraten.”
Am Rücken sei eine Kleinigkeit zu sehen gewesen, das wurde später untersucht. Die Diagnose: Der dritte Hals- wirbel gequetscht. Der C3. Nichts gebrochen, aber gequetscht. Querschnittslähmung. “Einen Finger ein wenig bewegen, den großen Zeh ein wenig bewegen, das war das einzige, was mir noch gelang.” Mut haben sie ihm gemacht. Er müsse jetzt hart trainieren, dann sei vieles möglich. Und dann fand er sich in Boberg wieder. Und noch bevor er einen ersten Muskel irgendwie anzuspannen vermochte, lernte er, wie Verstand und Geist mit dieser Lage umzugehen pflegen. Sie verdrängen. “Ich hab die Menschen in Boberg gesehen, die Patienten, querschnittsgelähmt. Ich hab nur gedacht, diese armen Menschen.” Dass es ihm nicht anders erging, diesen Gedanken hatten Geist und Verstand noch nicht zugelassen. Haben es wochenlang nicht zugelassen: “Das will man nicht wahrhaben.”
Und dann kamen sie, diese Nächte in der Klinik. Diese endlosen Nächte. Er bewegungsunfähig. “Und sei es nur, dass etwas im Gesicht juckt. Du kannst Dir nicht helfen. Du bist auf Hilfe angewiesen.” Die Notglocke, die Klingel, sie blieb sein einziger Zugang in die Außenwelt. Hilfe hätte er rufen können, und dann war es eben doch passiert. Der Knopf der Glocke nur eine Winzigkeit zu weit entfernt. Eine Winzigkeit, und damit unerreichbar.
Er musste warten, stundenlang warten, er musste auf Hilfe warten. “Du fühlst Dich so unendlich hilflos.”
Und es stiegen Gedanken in ihm empor. Ganz andere. Finstere. “Warum ist es nur gequetscht. Warum nicht gebrochen.” Der Volksmund verwendet dafür den Begriff Genickbruch.
Zweifel, die in Verzweiflung münden, in purer Verzweiflung, aber am Ende auch in Trotz. Als jemand, der im Handballtor stand, jemand, der als eines der großen Talente galt, damals in Regionalligazeiten. Jemand, der vor Ehrgeiz brannte, und den Rückraumspielern die Stirn bot, buchstäblich die Stirn, und zuweilen von den Würfen, die als Geschosse kamen, niedergestreckt liegen blieb, jemand mit diesem Willen, er gibt erst auf, wenn wirklich nichts mehr geht. Und tatsächlich. Irgendwann spürte er, irgendwann spürte er seinen Arm, den er leicht zu bewegen in der Lage war. Gesteuert zu bewegen. “Nichts geht automatisch, jeden Muskel muss ich direkt vom Gehirn aus ansteuern.” Ganz allmählich vermochte er auch die Beine zu dirigieren, ganz allmählich und nach zahllosen Fehlversuchen.
Und er übte und übte, manchmal Tag und Nacht. Und er kam vorwärts.
Er vermochte sich auszutauschen. “Mit meinem Zimmernachbarn bin ich hervorragend klar gekommen. Wir waren ein Team.” Per Tablet und Sprachbefehlen und Skype hielt er den Kontakt zu den wichtigsten Menschen, trotz Corona und Besuchsverbot zu seiner Familie. Zu Ehefrau Annette, zu den beiden Töchtern Emily und Clara. Aber dann kamen die Weihnachtstage. Der Zimmernachbar wurde am 23. Dezember entlassen.
“Du liegst dann allein da”, sagt Sven Sottorff, “völlig alleingelassen.” Klar, die täglichen Kontakte zur Familie, sie bestanden. “Sie haben mir sehr geholfen, sie haben mir Mut zugesprochen, sie haben mich ablenkt.” Aber irgendwann war die Videokonferenz beendet, und es brach die Stille herein, und alles. “Ich habe mir vorher nicht vorstellen können, dass ich irgendwann weinen werde. Aber ich muss einräumen, es flossen Tränen.”
Es hat ein wenig gedauert, aber er ist angekommen. Angekommen an seinem Lieblingsplatz in der Gaststätte. Angekommen am Stammtisch, wie er es nennt. Gleich neben der Theke. Er hat es alleine geschafft. So viel steht fest. Die Stufe vor diesem Stammtisch, er hat sie bewältigt, die Enge zwischen Bank und Tisch ebenfalls. Erstmals beschäftigt er sich wieder mit dem, was sein Leben ist, die Gastronomie. Und er hat so etwas wie eine Ahnung, wie es weitergehen könnte. Es soll weitergehen. Dieses Jahr hätte er ein Jubiläum zu feiern. 30 Jahre Gastronomie. Das lässt man nicht so einfach hinter sich.
Neben ihm nimmt Annette an diesem Stammtisch platz. “Ich habe ihr unendlich viel zu verdanken”, sagt Sven Sottorff. “Eine starke Frau.” Und starke Töchter, die hat er ebenfalls.
Die dreijährige Clara hat jeden Tag ein Bild gemalt, damals im Dezember, und im Januar. Eine Zahl stand darauf, die sie in die Kamera hielt. Damals, als feststand, er würde Ende Januar aus der Klinik in Boberg entlassen. Erst die 54, einen Tag später die 53. Irgendwann die 1. “Das hat mir sehr viel Kraft gegeben.”
Dass er überhaupt die Klinik verlassen konnte, verdankt er nicht nur seinem Gesundheitszustand.
“Ich verdanke es dem Einsatz vieler Freunde und der großen Familie. Sie haben unser Haus umgebaut.” Ohne Maßnahmen wäre er nicht entlassen worden, er wäre nicht der einzige gewesen, den sie da behalten hätten. “Ohne entsprechende Baumaßnahmen kommt man in den eigenen vier Wänden nicht mehr zurecht.”
Und? Ist er jetzt zufrieden, zumindest den Umständen entsprechend zufrieden? Er blickt ins Lokal, er blickt in die Leere des Lokals. Er lässt die Antwort offen. “Sicher, sie sagen, es ist noch einiges an Fortschritt möglich. Viele sagen das, andere bestreiten es.” Er werde es versuchen. Das Ziel hat er bereits vor Augen. “Ich möchte meinen Töchtern nicht nur über den Kopf streichen können. Ich möchte fühlen können, wie ich ihnen über den Kopf streiche.”